Februar 2018
"gehen oder bleiben?“
Ein tiefer Riss geht vom linken Schulterblatt des schwarzen Holztorso, dessen Rumpf auf einer weißen Steele positioniert ist, kreuzabwärts. Er dreht mir den Rücken zu, schaut schräg Richtung Wand. Leicht nach rechts gekrümmt wirkt er fragil und mit Schmerz vollgepumpt, der gerade noch auszuhalten ist. Der Kopf ausgebrannt und leer, in tiefes Schwarz getaucht, zerrissen, verbraucht, zerfetzt, hohl. Die rechte blutrote Hand ohne Arm, ohne Bezug zum restlichen Körper hält er vor sein Gesicht und verbirgt die eine Hälfte einer ebenmäßigen weichen Fassade, der jede Mimik entwichen ist. Das kopflastige Schwarz tropft vorderseitig bis zu den Schultern hinunter und eröffnet von der Brust bis zu den Lenden ein sattes leuchtendes Grün.
Ich richte meinen Blick Richtung rechter Wandseite auf das scheinbare Schlaraffenland in leuchtenden blauen und grünen Farben, vor dem die Figur im Raum ihren Blick halbseitig zu verschließen scheint: Im rechten Bildrand ein wohlgenährtes wundrotes Kind in blau-gestreiftem Hemd, das mit beiden flach geöffneten Händen ein großes Blatt vor das nicht vorhandene Gesicht hält, eine deutliche Entsprechung zur Figur im Raum. Kennen sich die beiden? Verschließen sie sich vor sich selbst, voreinander oder vor eigenen Erlebnissen? Handelt es sich hier um ein und dieselbe Figur in unterschiedlichen Lebensphasen? Das großformatige Ölbild enthält Relikte des Bauens und Wohnens sowie archaische Wandmalereien: Eine Maurerkelle, Erinnerungen an warme Sommertage, viel Natur, ein Leben draußen, aber irgendwie unaufgeräumt und durchbrochen von grätenartigen Hausumrissen ohne Innenleben, körperlos und kalt trotz leuchtender Farben.
Rechts davon, über Eck, ein in Schlichtheit kaum zu übertreffender Innenraum im 150x140cm-Format: eine Matratze am Boden, ein an der Wand lehnender aufgerollter Teppich, zwei Stühle, ein Tisch, ein Sofa, ein schwarzes Möbelstück, darauf eine leere Flasche. Keine Figur, kein gegenwärtiges Leben, nur eine Ahnung von vergangen Lebendigem, das im rosa-hellblauen Tisch- und grünen Betttuch möglicherweise Zeugnis ablegt. Wer hat hier gelebt? Kommt jemand nie mehr zurück? Lebt hier noch jemand?
Die Figur im Raum scheint mit der offenen Gesichtshälfte Richtung Innenraum-Gemälde zu blicken, als könnte sie sich dort noch erahnen, aber nicht mehr finden. Gleichermaßen wendet sie sich der anderen Seite zu, dem möglicherweise vermeintlichen Paradies, das sie nicht ertragen kann, weil es vielleicht keines war.
Was mir bleibt, ist ein Gefühl von Zerrissenheit zwischen Welten und die Frage, die sich für mich in der schwarzen Halbfigur im Raum manifestiert: Wo ist zu Hause? Muss ich dafür bleiben?
"Die Entscheidung zu bleiben oder zu gehen ist oftmals keine freie Entscheidung. Wie frei sind wir? Die Folgen der selbst oder fremd bestimmten Entscheidung zu bleiben oder zu gehen sind oftmals zutiefst beschämend. Schäme ich mich? Hat die Scham Folgen? Welche Folgen hat die Scham?“, so beschreibt Reinhard Droste seine hier gezeigte Installation, ohne sein Werk erklären zu wollen. "Bleiben geht nicht.“, lautet sein Statement, das im hier Dargestellten aufs Eindrücklichste und Schmerzhafteste, vielleicht auch Schamhafteste gezeigt wird und in gegenwärtigen politischen Ereignissen seine Entsprechung finden kann.
Ob in der hier gezeigten Installation auch eine Antwort auf das obige Motto der Erphokirchen-Ausstellung steckt, vermag die Betrachterin/ der Betrachter in eigener Anschauung zu ermessen. Nehmen Sie sich Zeit, es lohnt sich!
S.H.
Ausstellungseröffnung ist am Sonntag, dem 18.02. (im Anschluss an den Gottesdienst). Die Ausstellung endet am 08.04.2018.
Die folgenden Fotos zeigen den Aufbau der Installation in der Seiten-Kappelle der Erphokirche Münster:
Oktober 2017
Auch das noch: Ai Weiwei hat in New York 300 Skulpturen verteilt. Er widmet sie den 65 Millionen Flüchtlingen weltweit und zeigt einen Film mit dem Titel "Human Flow". Was ist von solchen Bekenntnissen zu halten?
Von Catrin Lorch
Es sind die märchenhaften Floskeln, die bemühen muss, wer über Ai Weiwei schreibt. Denn es kann kaum genügen, ihn als chinesischen Künstler zu apostrophieren, wo er doch einer der bekanntesten Künstler überhaupt ist und sicher der berühmteste Chinese. Dessen Reich so weit reicht, dass kaum ein Tag im Jahr vergeht, ohne dass Ai auf einem der fünf Kontinente eine Ausstellung eröffnet. Jetzt steht sein bislang größtes Projekt an. "Good Fences Make Good Neighbours" ist dieser Tage in New York schon deswegen nicht zu übersehen, weil die Schau überall stattfindet: Insgesamt 300 Werke hat Ai Weiwei in den fünf Boroughs der Metropole verteilt, in der er selbst in den Achtzigerjahren lebte.
Die meisten spielen motivisch mit dem titelgebenden Sprichwort, demzufolge "Gute Zäune gute Nachbarn machen". Am prominentesten ist der meterhohe Käfig im Süden des Central Parks, dessen Stäbe mit echtem Gold überzogen sind. Der Triumphbogen auf dem Washington Square bekam einen Einbau, in Queens stehen Metallzäune und die "Unisphere"-Weltkugel im Flushing Meadows Park umspannt ein Netz, das eine Grenze symbolisiert, sich aber auch als Sitzgelegenheit eignet. Es ist eine funkelnde, fast fröhliche XXL-Mitmach-Kunst, die Ai Weiwei jedoch mit einem ernsten Thema patiniert, indem er sie den "65 Millionen Flüchtlingen weltweit" widmet. Er ist stets darauf bedacht, in Interviews darauf anzuspielen, selbst so etwas wie ein Flüchtling zu sein, der in seiner Heimat inhaftiert war und lange das Land nicht verlassen durfte. Bei ihm klingt das allerdings wie das Seufzen eines international operierenden Managers, der auf seinen Jetlag anspielt. Passenderweise ("Es ist eigentlich ein Projekt") läuft in New York dieser Tage auch Ais Film "Human Flow" zur Flüchtlingskrise an, während im Guggenheim-Museum eine von ihm kuratierte Filmserie die Schau "Art and China After 1989: Theater of the World" begleitet.
Doch nimmt man dem Weltstar, der in China ein Studio mit Hunderten Mitarbeitern betreibt und eine Gastprofessur in Berlin hat, solche Bekenntnisse nicht mehr ab - spätestens seit er sich in der Pose von Aylan Kurdi, einem dreijährigen syrischen Kind, das tot an einem Strand angespült wurde, fotografieren ließ und das Bild über Social Media verbreitete. Weil der Künstler sich nicht dem Aktivismus unterordnet, sondern sich schlicht in der Zeitgeschichte breitmacht, das Elend anderer für seine Kunst ummünzt.
September 2017
3. Ökumenischer Predigtslam in der Erphokirche in Münster
Am 15. Oktober wird in der Erphokirche in Münster wieder einmal ein "Predigtslam" stattfinden. Darunter wird auch eine Kurzpredigt über das Verhältnis von Wahrheit und Kunst gehalten.
Insgesamt werden sechs "Prediger_innen" auftreten und Kurzpredigten zum Edith-Stein Satz: „Wer die Wahrheit sucht, sucht Gott“ halten.
Die Kurzpredigt von Reinhard Droste wird sich mit der provokanten Äußerung Pablo Picassos beschäftigen, dass Kunst eine Lüge sei.
Angesichts der Großereignisse wie Skulpturen-Projekte Münster 2017, Documenta 14, Biennale Venedig 2017 könnte die von Reinhard Droste vertretene Position spannend werden.
Der Ablauf ist wie folgt geplant:
11:30 Uhr Sonntagsmesse
12:30 Uhr Anmoderation des Predigtslams (Ortrud Harhues) und Verteilen der Stimmkarten
Musik
Predigten 1 und 2 (Margarete Kohlmann, Reinhard Droste)
Musik
Predigt 3 und 4 (Maria Terbeck, Andreas Goedereis)
Musik
Predigt 5 und 6 (Lisa Sauer; N.N.)
Ausfüllen der Stimmkarten und Einladung zum Imbiss
Musikalische Überleitung
13:15 Uhr Imbiss
13:40 Uhr Musik
Verkündung der Gewinner
Ausklang
Die beigefügten Fotos zeigen die Erphokirche in Münster sowie den Mittelteil des bekannten Altarbildes von Matthias Grünewald, das dieser zwischen 1506 und 1515 geschaffen hat und das als ein Hauptwerk deutscher Malerei gilt.
Die Predigt von Reinhard Droste wird sich u.a. auch auf dieses Werk beziehen.
August 2017
Ayse Erkmen plagiiert seit Juli diesen Jahres im Stadthafen Münster im Rahmen der Skulpturprojekte 2017 Christos Aktion „Floating Pears“ von 2016 am Lago d’Iseo und möchte Menschen mit Hilfe eines knapp unter der Wasseroberfläche angelegten Metallstegs sommertags von einer Kanalseite zur anderen wandeln lassen.
In beiden - bei genauem Betrachten doch ungleichen - Aktionen wird in den Medien davon gesprochen, dass die Menschen wie einst Jesus über das Wasser wandeln können.
Welch ein Ereignis! Welch ein Erlebnis!
Bei Christo wandelte man mit Hilfe eines orangenen Tuches und mit Hilfe Luft gefüllter Pontonteile direkt über der Wasseroberfläche, spürte die nachgebende Bewegung der Wasseroberfläche, bei Erkmen watet man, dem Kneippverfahren ähnlich, knöcheltief über einem Stahlsteg im schmalen Kanalwasser.
Beide Aktionen sind angesichts der leider immer noch aktuellen Situation auf dem afrikanischen Kontinent und der damit einhergehenden Flüchtlingsströme Richtung Europa - vorsichtig gesprochen - von besonderer Brisanz, - böse gesprochen - von einem skrupellosen Zynismus.
Hier waten europäische Kulturtouristen sommer- und ferientags medienwirksam über aufwendig angelegte flexible Brücken von einem Ufer zum anderen, dort versinken immer noch Tausende auf der Flucht in überfüllten kleinen Booten auf See, weil ihnen keine angemessene Hilfe gegeben wird und werden darf. Die Leiche des an den Strand gespülten kleinen Jungen Ailan aus Kobane legt immer noch beredtes Zeugnis ab über die über die Maßen traurigen Zustände.
Verrückte Welt! Wir haben uns daran gewöhnt - oder?
Seit Mittwoch liegt nun das Flüchtlingsschiff Al-hadj Djumaa, das 2013 mit 280 afrikanischen Flüchtlingen in Lampedusa vor Anker ging, im Kanalhafen Münster, in direkter Konfrontation mit dem Kunststeg Ayse Erkmens. Anders ausgedrückt:
Das Relikt einer gescheiterten Welt, instrumentalisiertes Objekt einer internationalen Kunstaktion, trifft auf eine publikumswirksame Fun-Installation einer Künstlerin.
Hier das Mahnmal, dort die Unterhaltungsinstallation. Hier die zusammengepferchten dunkelhäutigen Puppen auf einem notdürftig zusammengezimmerten zweistöckigen Holzboot, dort die lachenden Menschen auf dem kühlenden Weg von einem Restaurant zum gegenüberliegenden.
Zugegeben, unsere Welt bestand und besteht aus gewaltigen Widersprüchen.
Ja, das wissen wir, seit wir auf dieser Welt sind.
Gleichwohl überkommt mich immer wieder große Scham darüber, dass wir die Momente der Gleichzeitigkeit des Unannehmbaren so leicht hinnehmen, die uns oftmals - wie in diesem Falle durch temporäre sog. Kunstaktionen - gedankenlos, ignorant, schamlos, zynisch vorgehalten werden.
Aktionen wie diese sind meilenweit entfernt von einer Kunst eines Joseph Beuys, der z.B. mit einer seiner letzten Aktionen „7000 Eichen - Stadtverwaldung“ durch Kunst auf intelligente und sehr innovative Weise erkennbare und nachhaltige Veränderungen zumindest provoziert hat,
August 2017
Eine Reaktion auf den jüngsten Beitrag Melanie Bonajos in der Kunstzeitschrift ART, Ausgabe August 2017
Da werden ganze zwei Zeitschriftenseiten gefüllt mit einem Foto der Aktion des Veddeler Quartierkünstlers Boran Burchhardt, das die jüngst mit Blattgold versehene Klinkerhausfassade im Hamburger Veddel zeigt, an der eine unmittelbar betroffene Bewohnerin als private Reaktion ein Transparent befestigt hat, auf welchem sehr klar eine diesbezügliche Meinungsäußerung kundgetan wird:
„Schmier dir dein Gold woanders hin.“
Bravo! Möchte ich spontan dieser mir leider unbekannten Bewohnerin zurufen.
Denn wie ich auch lesen kann, wurden von der Hamburger Kulturbehörde für diese Aktion ca. 86.000 € ausgegeben, während hinter der Fassade Menschen leben, für die keine öffentliche Hilfe finanziert wird und keine Aktionen eingeleitet werden, die eine erkennbare Besserung der bekannten sozialen Situation der Bewohnerinnen dieses Viertels bewirken könnten.
Die Idee der „Vergoldung“ im Bereich künstlerischer Aktionen ist zudem alles andere als neu. Sie wird aber hier im Vergleich zu anderen bekannten und wirklich künstlerischen Aktionen für eine schamlose und so gar nicht künstlerische Geste verwendet, die hier zudem öffentlich gefördert und in einer Kunstzeitschrift überdies noch für „gut“ befunden wird.
Ein konkretes Beispiel:
Im schönen Pustertal gibt es zwischen Bruneck und Toblach seit 2008 einen sog. „Gold Target“ des Künstlers Wolfgang Zingerle. Dieses vergoldete Objekt entstand im Rahmen der Manifesta 7. Es besteht aus einem 26 Meter hohen Stützpfeiler einer ehemaligen eisernen Zugbrücke (ein Kaltnietbau ähnlich dem bekannten Eiffelturm, erbaut 1869-71), welche aus diversen Gründen eine herausragende historische und kulturelle Bedeutung erlangt hat, aber dennoch wider aller Proteste 2005 wegen des Baus einer neuen Bahnlinie abgerissen wurde. (Nähere Einzelheiten sind - dem Internet sei Dank! - schnell recherchiert.)
Der Rest, eben dieser Turm, konnte durch Aktionen des Künstlers Zingerle (u.a. die Vergoldung dieses Relikts) gerettet werden. So wurde durch die Aktion nicht nur ein herausragendes Monument der Kulturgeschichte erhalten und öffentlich sichtbar gemacht, sondern dadurch die gesamte gesellschaftlich und historisch bedeutende Hintergrundgeschichte in das kollektive Geschichtsgedächtnis überführt.
Im Hamburger Veddel wurde nun 2017 sozial unterprivilegierten Bewohnerinnen eines Mietshauses ohne deren Einwilligung (das Transparent spricht eine deutliche Sprache) die Hausfassade mit öffentlichen Geldern vergoldet (denn die Aktion gilt als zu förderndes Kunstereignis).
Schaulustige Kulturtouristen dürfen sich nun auch in diesem Hamburger Viertel an der vergoldeten Klinkerfassade ergötzen, Selfies mit dem Titel „Ich war da!“ anfertigen und dabei den u.U. aus den Fenstern schauenden Bewohnerinnen freundlich zuwinken und ihnen zurufen: Auch ihr werdet Dank dieser Aktion endlich von uns gesehen!
Dass da auch ein Transparent hängt, das Kritik unmissverständlich deutlich macht, wird selbst von Autorinnen einer Kunstzeitschrift billigend in Kauf genommen bzw. einfach ignoriert oder - was zu befürchten ist - als kulturell ungebildete Äußerung eben dieser sozial Schwachen provozierend ins Bild gesetzt.
Die Einsicht, dass Kunstobjekte bzw. -aktionen immer schon Produkte eines anschaulichen und zuweilen auch kritischen, aber immer innovativen Denkens waren und sind, hätte ich von Autorinnen einer Kunstzeitschrift eigentlich erwartet.
Die folgenden Fotografien zeigen der Reihe nach von links nach rechts
1. den Aufbau des "Gold Target" durch Wolfgang Zingerle in Südtirol,
2. das fertig gestellte Denkmal "Gold Target" in Südtirol 2008,
3. das Foto der Zeitschrift ART zum "Ghettogold" von Boran Burchhardt im Hamburger Veddel 2017